Macht der Sprache
Macht der Sprache
Die Stuttgarter Künstlerin Ülkü Süngün durchleuchtet diskriminierenden Umgang mit Namen im Haus am Wehrsteg
In den vorderen Räumen des "Haus am Wehrsteg" ist überraschend wenig zu sehen. Und doch sagt die aktuelle, dort gezeigte Ausstellung von Ülkü Süngün Wesentliches aus. Denn es geht um den unsensiblen Umgang mit Eigennamen von (post)migrantischen Menschen in Deutschland.
Entstanden ist das Projekt im Rahmen eines vierwöchigen Artist-in-Residency Aufenthalts in dem ehemaligen, direkt am Neckar gelegenen Trafogebäude, das von Künstler und Kurator Matthis Bacht geleitet wird. Bacht nutzt das Haus am Wehrsteg nicht nur selbst als Atelier, sondern stellt es auch anderen Künstlerinnen und Künstlern als Plattform für innovative Konzepte zur Verfügung. Dabei kommt es häufig zu kollaborativen Formaten, wie jetzt bei der Stuttgarter Kunstschaffenden, die die Ausstellung zusammen mit der Antidiskriminierungsbeauftragten der Stadt Heidelberg, Evein Obulor, entwickelt hat.
Unter dem Titel "Das Benennen" präsentiert Süngün ein aus wenigen Mitteln komponiertes Denk- und Erfahrungsterrain: mit Stimmen, die zu hören sind, zwei Fotografien, einem Wand-Schriftbild sowie Äpfeln in einer großen Obstkiste.
Darin dreht sich alles um den Namen "Ivie", der aufgrund eines behördlichen Fehlers in Deutschland nach der Geburt der Namensträgerin in Dokumenten und Ausweis vollkommen falsch geschrieben wurde. "Ivie" bedeutet in der afrikanischen Sprache Edo Perle oder Schmuckstück. Doch der ursprünglich fahrlässige Umgang mit der korrekten Schreibweise bewirkte, dass der Name seitdem in mündlicher und schriftlicher Form seiner inhaltlichen Bedeutung beraubt wurde und wird. In der Ausstellung klingen mehr als 30 falsch ausgesprochene Versionen durch die Räume. Gleichzeitig verweist das unscharfe Foto eines wunderschönen roten Hochzeitsschmucks auf den eigentlichen Sinn.
Eine fehlerhafte Schreibweise, Aussprache oder Betonung ihrer Namen führt bei Personen mit Migrationshintergrund zu Frust und Identitätsverlust, weiß Süngün. Darin spiegeln sich Machtverhältnisse, die auf ehemals kolonialen Systemen beruhen und sich bis heute in Rassismus und Ausgrenzung äußern, ergänzt Evein Obulor im Gespräch.
Künstlerisch stellt die 1970 in Istanbul geborene Süngün dieses Machtgefüge auf den Kopf, indem sie ein typisch deutsches Produkt, eine neue Apfelsorte, ganz konkret - in Zusammenarbeit mit dem Bundessortenamt - nach der Protagonistin ihrer Schau benennt. Tatsächlich kommt Ivie aus einer Familie von Obstbauern am Bodensee, während ihr Vater aus Afrika stammt.
Im letzten Raum leuchten sie dann so rot wie der Schmuck: Glänzende Äpfel in einer grünen Kiste, die bereits Etiketten mit ihrem Namen tragen, auch wenn der Prozess der Zulassung in der Realität noch Jahre dauern wird.
Trotz der minimalistischen Setzung ihrer Exponate zeigt Ülkü Süngün gleichzeitig Missstände und Lösungen auf. Es ist ein Konzept, das sie immer wieder in die Gesellschaft hineinträgt. Zum Beispiel als Dozentin an der Merz Akademie und der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart, aber auch als Aktivistin mit zahlreichen Initiativen und Angeboten. Sie möchte wach rütteln und deutlich machen, wie wichtig die richtige "Benennung" für die Würde des Menschen ist.
Rhein-Neckar-Zeitung, Feuilleton, 05.10.21